Mit dem Senkblei in der Hand

Ich möchte meinen Ausführungen ein Zitat von Arthur Schopenhauer voranstellen:

„Jeder, der ein Gedicht liest, oder ein Kunstwerk betrachtet, muss aus eigenen Mitteln beitragen, die in jenem enthaltene Weisheit zu Tage zu fördern; folglich fasst er nur so viel davon, als seine Fähigkeit und seine Bildung zulässt; wie ins tiefe Meer jeder Schiffer sein Senkblei so tief hinablässt, als dessen Länge reicht.“ (Zitatende)

Im Baugewerbe wurde und wird das Senkblei seit der Antike zur Ermittlung des Lots verwendet.

Als Messgerät kann man es jedoch nicht bezeichnen, denn es liefert keine Messwerte, sondern lediglich die exakte Vertikale.

Es ist also eine ganz wesentliche Orientierungshilfe, damit die Wände am Ende gerade stehen.

In der Schifffahrt wiederum hilft es, nicht auf Grund zu laufen.

Hier wird zwar gemessen, aber es geht nicht um die volle Wassertiefe, sondern sondern lediglich um den Wasserstand unterm Kiel.

Wie im profanen Leben auch, wo wir uns in ständiger Risikoabwägung versichern, ob unser Handeln zielführend, hinderlich oder vielleicht sogar gefährlich ist.

Wir haben unser Senkblei eigentlich immer dabei. Das ist uns nur nicht immer bewusst. Wir können es nicht einfach mal zuhause lassen, denn es wurde uns in die Wiege gelegt.

Wir als Freimaurer sollen uns auf der Winkelwaage begegnen mit dem Senkblei in der Hand.

Wozu brauchen wir die Vertikale, da wir uns und unser Gegenüber doch schon auf der gleichen Horizontale befinden?

In gesicherter, zumindest in neutraler Position dem Anderen gegenüber.

Die Winkelwaage beschreibt unsere Beziehung zueinander: auf gleicher Ebene.

Das Senkblei, das dabei jeder von uns in der Hand hält dient da wohl eher als Orientierung für uns selbst.

Die Frage lautet WIE wir uns begegnen sollen, nicht WOMIT.

Und die Antwort impliziert, dass wir das Senkblei dabei bewusst gebrauchen und nicht einfach nur in der Hand halten, instinktiv, wie bereits erwähnt.

Wie stehen wir?

Gerade, schräg, gebeugt oder idealerweise aufrecht?

Und dieses „Aufrecht“, das eine körperliche Haltung beschreibt, legt die Ableitung „Aufrichtig“ als geistige Haltung nahe.

Das Senkblei ist demnach ein wichtiges Instrument beim Austausch von Gedanken, Ideen oder auch Argumenten.

Aber jeder von uns ist mehr oder weniger von Ideologien beeinflusst. Diesen wiederum haftet immer die Tendenz des Ausblendens störender Tatsachen an.

Ideologien an sich sind dabei jedoch nicht das Problem.

Aber jene Ideologien, die der Philosoph Karl Popper als Totalität definierte, treiben heute zunehmend unsere Gesellschaft um.

Sie neigen zu einem umfassenden Wahrheitsanspruch mit Elementen von Mythenbildung, Geschichtsklitterung, Wahrheitsverleugnung und Diskriminierung konkurrierender Vorstellungen.

Um unser Denken – und damit letztendlich auch unsere Kommunikation zu reinigen, brauchen wir das Senkblei in unserer Hand.

Es hilft uns bei der Auslese stereotyper Denkschemata und bringt uns dadurch der Wahrheit ein Stück näher.

Nur so können wir uns wahrhaftig begegnen.

Und die Begegnung führt auf diese Weise zum Austausch UNSERER Gedanken, Ideen und Argumenten.

Das Eingangszitat Schopenhauers bezieht sich zwar ausschließlich auf die Rezeption von Kunst.

Wir aber, die wir die Königliche Kunst üben, sind zudem verpflichtet uns selbst zu erkennen.

Wir sollten schon wissen, wo unser Stein noch rau ist.

Und wir müssen auch diese Wahrheit suchen und ihr zum Recht verhelfen.

Das heißt, wir müssen ständig zusehen, wie wir den Faden für unser Senkblei verlängern. Ein erprobtes Mittel ist da die Selbstkritik.

Kritik in diesem Fall heißt: Bezweifeln, Hinterfragen, Überprüfen und im Ergebnis gegebenenfalls Korrigieren.

Laut freimaurerischer Definition bedeutet das (ich zitiere): „Mit dem ins Gewissen gesenkten Blei wird die Geradheit und Wahrhaftigkeit geprüft, die die gerade Linie des Bauwerks verbürgt.“

Zeichnung, aufgelegt von Bruder A.B. zur Tempelarbeit am 24. Januar 2025